#concordiageschichten – Die Geschichte von Familie Nazari
Seit mittlerweile sechs Jahren hat das LenZ Lern- und Familienzentrum seine Türen für Kinder, Jugendliche und Familien mit Flucht- und Migrationshintergrund in Wien geöffnet. Die Geschichte von Familie Nazari ist eine von vielen, die uns immer wieder vor Augen führen, wie wichtig es ist, dass diese Türen offenstehen.
Seit mittlerweile sechs Jahren hat das LenZ Lern- und Familienzentrum seine Türen für Kinder, Jugendliche und Familien mit Flucht- und Migrationshintergrund in Wien geöffnet.
Die Geschichte von Familie Nazari ist eine von vielen, die uns immer wieder vor Augen führen, wie wichtig es ist, dass diese Türen offenstehen. Die öffentlichen Institutionen allein reichen nicht, um den Unterstützungsbedarf für Familien mit Fluchterfahrung zu decken.
Dabei ist Bildung und damit das Schulsystem der Dreh- und Angelpunkt für die Integration und Teilhabe an der österreichischen Mehrheitsgesellschaft. Doch die gegebenen Ressourcen an den Schulen hinterlassen vielerorts heillos überforderte Lehrkräfte und Kinder, die ihre Lernrückstände alleine nicht bewältigen, und auch nicht die Hilfe von Zuhause erwarten können.
Die Sprachbarriere ist einer der wesentlichen Stolpersteine. Der älteste Sohn der drei Kinder von Familie Nazari, Masud*, verstand kaum ein Wort Deutsch als er hier in Wien in die Schule kam, war überfordert, traurig und frustriert. Die wenigen kostenlosen Unterstützungsangebote waren ausgebucht. Doch seine Eltern blieben hartnäckig, bis sie das Angebot der LenZ Lernbetreuung fanden und ihren Sohn anmeldeten. Masud war schon immer ein wissbegieriger interessierter Lerner, er brauchte nur ein bisschen mehr Aufmerksamkeit, um seine Sprachdefizite schnell zu verringern, damit er dem Unterricht folgen konnte. Für Erwachsene gilt es, auf einen Sprachkurs und der Arbeitserlaubnis nach Erhalt des Asylbescheids zu warten. Oft vergehen kostbare Jahre des Wartens, mit Nachwirkungen der Flucht, der Ungewissheit und psychischen Belastung.
So war es auch bei Familie Nazari. Fast drei Jahre hat sie auf ihren positiven Asylbescheid gewartet. Im niederösterreischischen Texing befand sich das Quartier, in dem sie lebten. „Zum Glück scheint diese Zeit schon wieder lange zurück“, erzählt Herr Nazari. „Wir leben im Hier und Jetzt. Unsere Kinder gehen in die Schule, und wir sind froh und dankbar, in Österreich leben zu dürfen.“
Die Möglichkeit zur Schule zu gehen blieb dem Ehepaar Nazari im afghanischen Ghazni verwehrt. 1998 kamen die Taliban erstmals an die Macht, und kurze Zeit später ging Herr Nazari das letzte Mal zur Schule. Damals war er 10 Jahre alt. Eine spürbare Narbe am Hinterkopf erinnert ihn heute noch daran. An einem Tag hatte er seinen Kopf nicht mit dem traditionellen Turban bedeckt. Vom Taliban-Mullah wurde er dafür mit mehreren Schlägen am Hinterkopf bestraft. Von da an versteckte er sich und half seinem Vater, der später durch die Taliban zu Tode kam.
Als Mädchen war es Frau Nazari unter den Taliban grundsätzlich verwehrt, zur Schule geschweige denn alleine vor die Haustür zu gehen. Wenn sie heute ihre Tochter, die dieses Jahr die 1. Klasse Volksschule besucht, so ansieht, ist sie stolz und glücklich. Frau Nazari ist 29 Jahre alt und besucht gerade einen A2-Kurs. Für sie, sowie für viele afghanische Frauen, ist es schwierig. Sie habe so viel nachzuholen, erzählt sie. In Österreich hat sie erstmals das Alphabet gelernt. Ihr ganz persönliches Ziel ist es, den Führerschein zu machen und als Verkäuferin zu arbeiten.
Die Feststellung, dass mitgebrachte Qualifikationen in der neuen Gesellschaft oft nicht den Stellenwert haben wie im Heimatland, vieles anders und von Null auf gelernt und erfahren werden muss, ist oft sehr hart.
Es braucht meist viel Zeit, damit Betroffene ihre Rechte auf Bildung und Chancengleichheit tatsächlich wahrnehmen können. Für Familie Nazari läuft es nach vielen Jahren des Zitterns heute gut. Herr Nazari hat eine Arbeit in einem Lager für Metallteile gefunden, spricht sehr gut Deutsch und freut sich für seine Frau, dass sie hier in Österreich als Frau Chancen hat, die ihr in ihrem bisherigen Leben verwehrt blieben. Auch sie kommt ins LenZ zum Deutsch üben und zum Austausch.
Für viele Familien ist das LenZ der einzige Ort, um mit deutschsprachigen ÖsterreicherInnen stressfrei ins Gespräch zu kommen. Dass hier immer etwas los ist, ist auch den vielen Freiwilligen in der Lernbetreuung zu verdanken. Woche für Woche nehmen sie sich für die Kinder und oft ganze Familien Zeit und schenken ihnen ihre Aufmerksamkeit. Häufig entsteht daraus ein Austausch auf mehreren Ebenen, und manchmal auch aufrichtige Freundschaften fürs Leben.
Herausfordernd bleibt es dennoch, für die Freiwilligen und MitarbeiterInnen, aber vor allem für Betroffene. Der Aufbau eines völlig neuen Lebens bedarf großen Engagements. Und viel Glück.
Umgekehrt sieht es unser Team im LenZ als ihr großes Glück an, Menschen zu begegnen, die trotz zahlreicher Hürden, Rückschläge und traumatischer Erlebnisse unglaubliches leisten. Sie sehen, wie diese Menschen neues Potential an ihnen selbst entdecken und daran wachsen. Bei Problemen sind sie zur Stelle und geben ihr Bestes, um Betroffene dabei zu unterstützen, ihre Lebensbedingungen zu verbessern.
Gerade SchülerInnen mit Fluchterfahrung sind seit Ausbruch der Pandemie sehr gefährdet zurückzubleiben, Lernrückstände schwer bzw. gar nicht aufholen zu können und dadurch womöglich mehrere Jahre zu verlieren. Außerschulische Angebote sind für sie aber auch zu „Normalzeiten“ von großer Bedeutung, schaffen Gelegenheiten, um die Integration zu fördern. Das macht viel aus. Ein Unterschied, der für die Zukunft der Kinder und Jugendlichen wegweisend ist.
*Namen geändert.